Spitzensport in der Schweiz: Ehemaliger Leichtathletik-Bundestrainer Herbert Czingon berichtet über seine Erfahrungen

„Nachwuchs-Wettkampf-Konzept ist erstaunlich wirksam“

16.11.2021 –  Michael Heinze

Über die Unterschiede zwischen dem Leistungssport in Deutschland und der Schweiz referierte Herbert Czingon, ehemaliger Bundestrainer beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), bei einer internen Weiterbildungsveranstaltung der LSB-Abteilung Leistungssport.
„Historisch ist der Leistungssport in der Schweiz ein Bestandteil des Militärs“, erläuterte Czingon. „Aber der Sport ist natürlich völlig unabhängig in seinen Entscheidungen.“ Gerade in der Leichtathletik habe die Schweiz „eine wunderbare Vereinslandschaft mit ganz vielen ehrenamtlichen Trainer*innen – leider nur mit einer einzigen Leichtathletik-Halle in Magglingen.“ Dort arbeitete Czingon von 2012 bis 2020 als Nationaltrainer in dieser sehr komplexen Sportart, die man in 17 unterschiedliche Cluster einteilen kann.

„Die besseren Regionalkader-Athlet*innen dürfen auch nationale Leistungszentren nutzen“, erläuterte der 69-Jährige, der das „FTEM-Modell für die Leichtathletik“ dezidiert vorstellte – wobei die Buchstaben für Foundation, Talent, Elite und Mastery stehen. Für einen sehr kleinen Kreis gebe es im Alter von 17 bis 19 Jahren eine sehr gute Förderung. Mit mehreren Kadermaßnahmen pro Jahr. Die EM-Teilnahme stehe im Vordergrund – der Schweiz genüge der europäische Standard.

„Man hat die Erkenntnis gewonnen, dass die Talente gefunden werden sollen – dass es aber sehr viele Drop-Outs gibt“, dozierte der frühere Zehnkämpfer und studierte Sportphilologe. „Einer der Gründe – die Talente waren möglicherweise in der falschen Sportart.“ Daher spiele ein Talenttransferkonzept nach australischem Vorbild in der Schweiz „eine durchaus große Rolle“.

Die Förderstufen in der Schweizer Leichtathletik reichen vom Regionalkader (14 bis 18 Jahre) über „Swiss Starters Future“ (17 bis 19/22), „WorldClass Potentials“ (16/17 bis 22) bis zu „Swiss Starters“ (20plus). Ziel der WCP sei es, unter die Top 30 der Welt zu kommen. Voraussetzung für die Aufnahme ins Militär sei der Status als Swiss Starter oder „World Class Potential“. „Es gibt die Möglichkeit an bestimmten Universitäten, an die leistungssportlichen Anforderungen angepasste Studienpläne abzustimmen“, verriet Czingon.

Eine tolle Sache sei der von größten Schweizer Bank finanzierte „UBS-Kids-Cup“. Dies seien „Olympische Spiele im Kleinen“, wo die Besten der Welt zusammenkommen. Der Experte, der bei den Olympischen Spiele 2012 in London acht Medaillen mit vorbereitete, sprach von einem „erstaunlich wirksamen Nachwuchs-Wettkampf-Konzept, das organisiert wird mit einem Aufwand, den man sich bei uns überhaupt nicht vorstellen kann – aber die Wirkung ist wirklich riesengroß“.

Das Fazit des Trainerfuchses: Der Spitzensport in der Schweiz ist hervorragend organisiert und basiert auf einer reichhaltigen Basis im Vereinssport – zahlreiche Werte, Strukturen und Organisationsformen ähneln den Strukturen in Deutschland. „Der allgemeine und private Wohlstand und die Schuldenfreiheit der öffentlichen Hand bilden eine gute Basis für Investitionen in eine sich weiter verbessernde Sport-Infrastruktur“, resümierte Czingon. Der Trainerberuf unterliege ähnlichen, teils größeren Probleme eines unattraktiven und unpopulären Berufsbildes wie in Deutschland. Überall dort, wo es bei beruflichen Tätigkeiten in irgendeine Spezialisierung hineingehe („Zum Beispiel Hochsprungtrainer oder Wurftrainer“) werde es kritisch. In der Schweiz gebe es insgesamt maximal zehn hauptamtliche Leichtathletiktrainer*innen. In den Wintersportarten verdienten die Athlet*innen deutlich mehr als in den Sommersportarten.