„Demografie und doppelte Kohorten“: Was können wir aus den Zahlen herauslesen?
LSB-Bestandserhebung: Einordnung durch Prof. Dr. Lutz Thieme
05.09.2024 – LSB-Kommunikation
Herr Thieme, 2023 (6,16 %) war das erste Jahr mit einer deutlichen Zunahme der Mitgliedschaften seit 2007 (0,21 %) bzw. seit den späten 1960er Jahren (ca. 10 % pro Jahr). Welche Gründe sind hierbei zu nennen?
Thieme: Steigende Mitgliederzahlen werden ja aus vielen Landessportbünden berichtet. Aus meiner Sicht gibt es dafür drei wesentliche Gründe. Die Corona-Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie wichtig Sport und Spiel, aber auch das Gemeinschaftserlebnis ist. Beides bietet der Sportverein in einzigartiger Weise. Zudem scheint es noch einen Kompensationseffekt aus Corona zu geben: Menschen, die damals nicht in Sportvereine eingetreten sind, weil diese keine Angebote machen konnten, treten jetzt in Sportvereine ein. Hinzu kommen die Menschen, die wie in anderen Jahren auch in Sportvereine eintreten, weil sie z.B. anfangen zu turnen, Fußball zu spielen oder schwimmen zu lernen. Im vergangenen Jahr sind quasi zwei Kohorten zusammen statt nacheinander in die Sportvereine eingetreten.
Seit ungefähr 2015 zeigt die Demografiekurve in Rheinland-Pfalz wieder nach oben. Ist das der einzige Grund für die positive Entwicklung der Mitgliedschaften?
Thieme: Die positive Demografie ist der dritte Grund für die steigenden Mitgliederzahlen. Bei Kindern bis ca. zehn Jahren sind ein hoher Prozentsatz eines Jahrgangs Mitglied in einem Sportverein. Ab zehn oder elf Jahren sinkt der Anteil, der sogenannte Organisationsgrad, schnell wieder. Mehr Kinder als in der Vorjahreskohorte im typischen Eintrittsalter von sechs bis zehn Jahren bedeuten also mehr Mitglieder in den Sportvereinen.
Können Sie erklären, warum die Steigerung der Mitgliederzahlen im Sportbund Rheinland deutlich geringer ausfällt als in den Sportbünden Pfalz und Rheinhessen?
Thieme: Nein, das wäre der Blick in die Glaskugel.
Sehen Sie die Steigerung der Mitgliedschaften als nachhaltig gesichert, sodass der organisierte Sport den Top-Wert aus 2002 mit 1,5 Mio. Mitgliedern in den Blick nehmen kann oder sollte auf die Euphoriebremse getreten werden?
Thieme: Ich würde etwas auf die Euphoriebremse treten wollen. Wenn de facto zwei Kohorten gleichzeitig eintreten, dann treten auch viele aus beiden Kohorten wieder aus, so dass die Austrittsquoten im Vergleich zum langjährigen Mittel in den nächsten Jahren steigen werden. Der negative Corona-Effekt der fehlenden Eintritte wird gerade durch einen positiven Effekt der vermehrten Eintritte kompensiert, wird sich aber in seinen positiven Auswirkungen wieder normalisieren.
Bei allen Steigerungen - die Anzahl der Sportvereine sinkt stetig. Wäre es nicht logisch, dass die Mitgliederzahlen wie vor der Corona-Phase auch wieder sinken? Welche Gründe sehen Sie, dass dies offensichtlich nicht so ist?
Thieme: Aus den Zahlen ist nicht ersichtlich, wie hoch die Volatilität der Vereinsneugründungen und Vereinsschließungen ist. Wir kennen nur den Saldo. Erst die Entwicklung der Neugründungen und der Schließungen würde die wirkliche Dynamik abbilden. Zudem müsste man wissen, ob die Vereine, die schließen mussten, bestimmte Strukturmerkmale aufweisen. Es könnte z.B. sein, dass sich die Mitglieder einem anderen Verein angeschlossen haben oder zwei Vereine fusioniert sind. Ob der Rückgang der Zahl der Vereine zu Besorgnis Anlass gibt, lässt sich aber ohne detailliertere Daten nicht sagen.
Welche Besonderheiten sehen Sie, warum bestimmte Verbände Gewinner oder Verlierer der aktuellen Bestandserhebung geworden sind?
Thieme: Da kann ich nur mutmaßen. Jede Sportart hat eine besondere Signatur, d.h. ein charakteristisches Alter der Eintritte, dem Verlust von Mitgliedern und dem durchschnittlichen Alter der Mitglieder. Die demografischen Effekte und die Corona-Nachlauf-Effekte treffen Sportarten zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Hinzu kommen sportartspezifische Gründe, die aber aus den Zahlen der Bestandserhebung nicht abzulesen sind.
Welche Auswirkungen hat die fortwährende Entwicklung von neuen Sportarten und -fachverbänden (z. B. Cheerleading oder Kickboxen) auf die Zahl der Mitgliedschaften?
Thieme: Eher geringe. Das System des organisierten Sports ist sehr stabil und schwingt sich nach Schocks wie der Coronapandemie wieder ein. Das schließt nicht aus, dass einzelne Vereine oder Sportarten hart und lange betroffen sind. Neue Verbände spiegeln ja neue Angebote der Vereine wider. Wenn es neue Angebote gibt, verteilen sich die Sportinteressierten breiter. Die Gesamtzahl wird davon wenig beeinflusst.
Die Zahlen gingen bis 2002 und auch jetzt wieder nach oben – finden wirklich mehr Menschen zum Sport oder sind Menschen heute in mehreren Vereinen Mitglied, weil sich die Vereine spezialisiert haben?
Thieme: Das lässt sich seriös nicht sagen. Korrekterweise wird daher ja auch von „Mitgliedschaften“ gesprochen, weil wir nicht wissen, wie viele Menschen sich hinter den gezählten Mitgliedschaften verbergen.
Was können (Groß-)Sportvereine von den Top5 (1. FC Kaiserslautern, 1. FSV Mainz 05, DAV und Schwimmverein Gimbsheim) für ihre eigene Entwicklung abschauen?
Thieme: Vielleicht gar nicht so viel. Die Top5 sind sehr speziell. Der FCK und Mainz 05 profitieren von wachsenden Fanmitgliedschaften, der DAV bedient eine besondere Klientel und im Schwimmverein Freibad Gimbsheim engagieren sich Menschen, damit ihr Freibad vor Ort weiter besteht und sie es nutzen können. Mein Tipp wäre vielmehr im Vereinsdashboard nachzuschauen, welcher Verein strukturell vergleichbar ist, aber nicht die gleichen Probleme hat und mit diesen Vereinen in einen Austausch zu kommen, wie diese Probleme vermieden oder gelöst haben.
Schaut man sich die Prognose der Bevölkerungsentwicklung an, auf welche Altersgruppen sollten sich die Sportvereine dann konzentrieren?
Thieme: Die Sportvereine sind sehr erfolgreich darin, Kinder an den Sport heranzuführen. In der Gesamtbetrachtung sinkt der Organisationsgrad ab einem Alter von 10 Jahren ziemlich schnell und recht drastisch. Sportvereine sollten sich daher darauf konzentrieren, die Kinder auch noch als Jugendliche an den Verein zu binden. Ich weiß, dass dies leichter gesagt als getan ist.
Die jüngste Altersgruppe steigt um noch nie dagewesene 35 %, ein wahnsinniges Ergebnis?
Thieme: Nein. Demografie und doppelte Kohorten. Sicher aber auch die stabil gute Arbeit der Sportvereine vor Ort.
Die Altersklasse 19 bis 26 Jahre verliert mit fast 2 % am stärkste. Welche Gründe sehen Sie hier?
Thieme: Ich denke, dass es sich im Wesentlichen um einen statistischen Effekt handelt. Der in dieser Altersklasse neue Jahrgang der 19-Jährigen ist zahlenmäßig kleiner als der Jahrgang der 27-Jährigen, die aus dieser Altersklasse ausgeschieden sind.
Welche Aspekte entdecken Sie bei der Betrachtung der Zahlen, die noch nicht thematisiert wurden?
Thieme: Ich finde ja nach wie vor, dass der organisierte Sport aus seinen Bestandszahlen viele steuerungsrelevante Informationen beziehen könnte. Die für strategische Entscheidungen notwendigen Informationen sind jedoch noch nicht definiert und es gibt keinen regelmäßigen Prozess zur Analyse der Daten. Mal schnell einen Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin über die Zahlen schauen zu lassen hilft nicht wirklich weiter.